Hier finden Sie die Zusammenfassung der Beiträge beim Treffen der Initiative für Große Kinder auf Einladung von Save the Children am 28. April 2015 in Berlin – auch als PDF zum Downloaden: Rechte Großer Flüchtlingskinder [ca. 55 KB]
Zusammenfassung der Beiträge beim Treffen der „Initiative für Große Kinder“ auf Einladung von Save the Children, am 28. April 2015 in Berlin.
A. Interview-Gespräch mit Melanie Polascheck.
Sie arbeitet als DaZ-Dozentin an einer Berliner Volkshochschule und erlebte dort, dass eines der drückendsten Probleme von erwachsenen Flüchtlingen die soziale Isolation ihrer Kinder ist. Das führte zur Gründung der Initiative YouMeWe, die hier lebende und geflüchtete Kinder an Grundschulen in gemeinsamen Aktionen zusammen bringt: zum Beispiel mit Kiezrallyes und dem Theaterprojekt „Mut & Angst“. Frau Polascheck berichtet von sehr positiven Erfahrungen für alle beteiligten Kinder und auch von der Entlastung, die Lehrkräfte und pädagogisches Personal erleben.
Tschingis Sülejmanov.
Er engagiert sich im Berlin-Büro von Jugendliche ohne Grenzen und tritt gemeinsam mit anderen für die Rechte von geflohenen Kindern und Jugendlichen ein. Er studiert Mathematik und Informatik. Seine Eltern flohen mit ihm und seinem Bruder aus Aserbaidschan, als er 13 Jahre alt war. Er berichtet von der Bedeutung eines guten Kontaktes zu Klassenkameraden, die er zu Beginn seines Aufenthalts vermisste und schließlich ab der Gymnasialzeit bekam und wertschätzte, sowie von der Unterstützung durch verständnisvolle Lehrkräfte. In der ersten Zeit in Deutschland empfand er die Isolation und den Ton des Betreuungspersonals im Aufnahmelager als befremdlich bis beängstigend, kontrastierend dazu die Betreuung durch den Leiter einer nachfolgenden Flüchtlingseinrichtung. Der Leiter dort unterstützte Tschingis‘ Eltern darin, dass er und sein Bruder in die Schule gehen konnten: diesen Wunsch hätten zuvor wenige Flüchtlingseltern aus Angst vor Fremdenfeindlichkeit geäußert. Im Kontakt mit Deutschen erlebte er es als Herausforderung, sich deutschen Erwartungen und Verhaltensnormen anzupassen, zum Beispiel dass man in Deutschland im Gespräch Augenkontakt auch mit Mädchen oder Frauen erwartet. Ebenfalls befremdlich und unverständlich war für ihn, dass deutsche Freunde sich nicht zu ihm ins Flüchtlingsheim trauten. Dass seine Eltern ihn und den Bruder lange vor ihren eigenen fluchtbedingten Sorgen und Nöten verschonten, erkennt er rückblickend als verantwortungsvollen Schutz des Kindes vor Traumatisierung an.
Weneta Suckow.
Sie arbeitet bei Save the Children im Bereich Rechte von Flüchtlingskindern. Sie gab einen Überblick über die Zahlen von Asylanträgen im Deutschland 2014 (202.000), 32% davon Minderjährige betreffend. 40.000 Kinder flohen mit Familie, ca. 3000 kamen unbegleitet. Insgesamt leben ca. 18.000 minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe und ca. 125.000 geflüchtete Kinder in ihren Familien (geschätzte nicht verifizierte Zahl!).
Nicht einbezogen sind naturgemäß illegal Eingewanderte. Ca. ¾ der minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland sind zwischen 0 und 10 Jahre alt. Sie betonte, dass Kindeswohl im Alltag der Kinder keinen Vorrang hat und dass die UN-Kinderrechte vor allem in der Unterbringung, im (Aus-) Bildungs- und Gesundheitsbereich noch nicht ausreichend in der Praxis umgesetzt werden. Während unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vom Kinder- und Jugendhilfegesetz „erfasst“ sind, gilt für die Flüchtlingskinder, die mit ihren Familien hier sind, das Asylbewerberleistungsgesetz, was gerade für diese Gruppe zahlreiche Kinderrechtsverletzungen in der Praxis nach ziehe. Sie verwies auf die zunehmende Bedeutung des Flüchtlingsproblems innerhalb Europas, durch die Flüchtlingswelle aus Krisenregionen in Afrika und Vorderasien. Save the Children ist entlang der wichtigsten Krisengebiete und Fluchtrouten in Syrien, Nahem Osten, Jordanien, Nord- und Ostafrika, Italien/ Lampedusa usw. vor Ort und hilft in gemeinsamer Arbeit mit anderen Organisationen, Kinderrechte für geflüchtete Kinder umzusetzen. Durch diese internationale Arbeit kann Save the Children auf langjährige und vielfältige Erfahrungen und Kooperationen zurückgreifen.
Bianka Pergande,
Leiterin Deutsche Programme bei Save the Children stellte den gerade aufgelegten Förderwettbewerb KINDERrechte für KINDERflüchtlinge vor, der Initiativen und Projekte in Deutschland fördert, die sich für die Rechte von Flüchtlingskindern einsetzen.
B. Diskussionsbeiträge
1. Kindersicht
1.1. Zusammenfassend wird deutlich, dass für „Große Kinder“, die als „Fremde“ nach Deutschland kommen in erster Linie der Kontakt zu anderen Kindern wichtig ist. Es tut ihnen gut, wenn sie die Schule besuchen können. Signale von Gleichaltrigen wie „du darfst mitmachen“, „ich will dein Freund sein“, „ich helfe dir“ tragen wesentlich zur inneren Sicherheit und zum Dazugehören des „neuen“ Kindes bei. Die Gelegenheiten für die Begegnungen der Kinder müssen allerdings von Erwachsenen organisiert und zur Verfügung gestellt werden. Flüchtlingskinder entwickeln oft eigene Strategien, um mit hier lebenden Kindern in Kontakt zu treten: Vom hilfesuchenden Weinen, über Streiten und Vertragen, sportliche Leistungen oder durch kreatives Erfinden von gemeinsamen Aktionen u.a.
1.2. Kinder wollen sich nicht in ein „Deutsches Schema“ gepresst fühlen, sondern sich als Person mit „anderer“ Vergangenheit und Herkunft angenommen, wertgeschätzt und in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützt fühlen.
1.3. Für Flüchtlingskinder (auch für nicht geflüchtete Einwanderer-Kinder) ist der Kontakt zu Verwandten und Freunden in der Heimat besonders wichtig. Internet- und Telefonverbindungen über Computer, Tablet, Smartphone tragen zur inneren Stabilität und zum Bewältigen der Trennung bei.
1.4. „Große Flüchtlingskinder“ drücken belastende Erinnerungsbilder im freien Spiel, in Geschichten, Bildern und anderen medialen Darstellungen aus. Diese Äußerungen tragen zur psychischen Verarbeitung bei und die Inhalte können betreuenden Erwachsenen Hinweise auf einen eventuellen Therapiebedarf geben. Eine Therapie wird von betroffenen Kindern und Jugendlichen allerdings oft abgelehnt, weil sie sich selbst nicht als therapiebedürftig erleben, sondern eher ihre Lebensumstände als Problem erleben. Spezielle Kinder-Traumatherapeuten noch dazu mit Kenntnis der Herkunftssprachen bzw. geeignete Dolmetscher gibt es darüber hinaus zu wenige.
2. Umgang mit Flüchtlingskindern in Schule, Jugendhilfe und Kommune
Für Kinder ist in der neuen Umgebung der Blick nach vorn wichtiger als der Blick zurück: Die Aussicht weiter zu kommen, zu lernen, das eigene Leben mitgestalten zu können, sich als (selbst) wirksame Person zu erleben, geben Sicherheit und Zuversicht.
Praxistipps:
2.1. Die Klassenlehrerin / der Klassenlehrer sorgt dafür, dass sich jeweils ein Kind findet, das sich um einen Neuankömmling besonders kümmern kann und dies auch möchte. Wenn dies vom hier lebenden Kind als Anerkennung und Verantwortungsübertragung erlebt wird, kann dies eine positive, Selbstwirksamkeit fördernde soziale Erfahrung sein. Wenn die Betreuung dagegen einem hier lebenden Kind ohne dessen Zustimmung übertragen wird, kann dies zur Abwehr auch des Flüchtlingskindes führen.
2.2. Gemeinsame Aktivitäten von hier lebenden Kindern und Flüchtlingskindern erleichtern das Ankommen, verhindern Isolation und geben Sicherheit: altersgerechte, interessengeleitete Gruppenaktivitäten und Unternehmungen, Spiele, Sport, Musik, Theater, KiezRalleys usw. Der Einsatz von Smartphones, Tablets, Computern kann das Ankommen und den Kontakt zu anderen Kindern z.B. durch Übersetzungs-Apps, gemeinsame Spiele und Aktivitäten, Orientierung in der Welt unterstützen.
2.3. Gespräche mit den Eltern über ihre eigene Situation und vor allem über die Belange des Kindes erleichtern das Ankommen der ganzen Familie.
2.4. Initiativen wie „offenes Haus, offenes Herz“, bei der Eltern an einem Nachmittag pro Woche ein oder zwei fremdsprachige Schulkameraden der eigenen Kinder zum Reden, Spielen, Hausaufgaben machen in ihre Familie einladen. http://www.offeneshaus.eu/initiative.html
2.5. Vorhandene Kompetenzen nutzen: Durch eigene Fluchterfahrungen und durch den Umgang mit Einwanderern nach dem zweiten Weltkrieg gibt es in Deutschland ein nicht zu unterschätzendes Repertoire an Erfahrungen über die persönlichen Auswirkungen von Flucht, Kompetenzen und Konzepten für die Betreuung und Unterstützung von Neuankömmlingen. Besonders die Erfahrungen von Erwachsenen die selbst im Kindesalter geflohen sind, sollten bei der Konzeption für die Begleitung geflohener Kinder sowie für eine Gestaltung der vielbeschworenen „Willkommenskultur“ einbezogen werden.
3. Problembereiche:
3.1. Altersschätzung: Kinder aus nicht-Europäischen Ländern werden von uns oft in ihrem Alter falsch eingeschätzt: So wirken südosteuropäische Kinder auf uns äußerlich oft älter als gleichaltrige Deutsche; asiatische Migranten schätzen wir oft jünger ein.
3.2. Migration und insbesondere Flüchtlingserfahrungen können einerseits zu reiferem Verhalten beitragen, andererseits können Traumatisierungen zu einem Rückfall in eine frühere Entwicklungsphase führen.
3.3. Die Entwicklungsaufgaben die von Kindern im jeweiligen Alter erwartet oder die ihnen zugestanden werden, unterscheiden sich von Kultur zu Kultur. Insofern treffen unsere Entwicklungsmaßstäbe nicht ohne weiteres auf Kinder anderer Kulturen zu. Dies kann zu Problemen in der Kommunikation mit den Kindern selbst und vor allem mit deren Eltern führen.
Im Umgang mit Flüchtlingskindern ist es deshalb besonders wichtig, das Kind so zu nehmen, wie es sich selbst erlebt, um darauf aufbauend die weitere individuellen Entwicklung zu unterstützen. Kinder zu sehr als hilflose und hilfsbedürftige Opfer zu sehen und ihre Kraft und Selbstwirksamkeit im Umgang mit dem Erlebten und der neuen Situation zu unterschätzen, kann ebenso entwicklungshemmend sein, wie ihnen zu viel an Verantwortung für sich selbst bzw. für die Familie zu übertragen.
3.4. Belastungssymptome von Flüchtlingen und Flüchtlingskinder werden von Personen, die mit Flüchtlingen zu tun haben und besonders von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der aufnehmenden Behörden oft ignoriert, bagatellisiert oder als Simulation abgetan. Dadurch werden Traumatisierungsfolgen u.U. verschlimmert. Wenn Kinder zu simulieren scheinen, ist dies in der Regel ein ernst zu nehmender Hinweis auf ein tiefer liegendes Problem des Kindes.
3.5. Die Separierung spezieller Schulklassen für nicht-deutschsprachige Kinder, sog. „Willkommensklassen“ wird als wenig hilfreich und isolationsverstärkend angesehen. (In Schweden werden Migrantenkinder in normale Klassen aufgenommen und erhalten parallel bedarfsgerechten, zeitlich begrenzten Schwedisch-Unterricht in kleinen Gruppen oder einzeln).
3.6. Gegen Kulturell-religiöse Einschränkungen vor allem von Mädchen und Frauen, (z.B. nicht Fahrrad-fahren-Dürfen) sollte von deutscher Seite nicht mit Druck vorgegangen werden. Flüchtlingen gibt ihr traditionelles Wertesystem in der Fremde oft wesentlichen Halt. Die gilt es gleichermaßen anzuerkennen, wie mit ihnen daran zu arbeiten, dass Menschenrechte kulturübergreifend gültig sind. Besonders schwierig ist der Umgang mit diesem kulturellen Dilemma für die „Großen Kinder“ und Jugendlichen. Sie brauchen für den „Brückenschlag“ eine besonders feinfühlige, kulturoffene, tolerante aber auch klare Begleitung. Die UN-Kinderrechte geben Orientierung und Sicherheit.
3.7. Die Isolation der Erwachsenen, die in unterschiedlichen professionellen Systemen mit und für Flüchtlingskinder arbeiten (Behörden, Träger der Jugendhilfe, Schulen, Therapien usw.), muss aufgebrochen werden. Oft fühlen sich Einzelpersonen allumfassend für die Flüchtlingskinder zuständig, weil auf anderen Ebenen Nöte nicht gesehen oder Verantwortlichkeiten nicht anerkannt werden.
4. Bedarfe:
4.1. In Aus- und Weiterbildungen müssen die besonderen Belange von „Großen Flüchtlingskindern“ thematisiert werden. Das Erkennen von und der angemessene Umgang mit Traumatisierung und fluchtbedingten Belastungssymptomen muss beherrscht werden. Für traumatisierte geflüchtete Kinder braucht es niedrigschwellige, sprach-/ kultursensible und stärkende Betreuungsangebote.
4.2. Der Zugang zum Gesundheitssystem und vor allem zu qualifizierter Traumatherapie muss gewährleistet werden.
4.3. Den Zugang zur Schul- und Berufsausbildung zu garantieren ist nicht nur ein Kinderrecht, sondern entspricht auch dem Bedürfnis der Kinder selbst, weil ihnen Bildung Zukunfts-Zuversicht vermittelt.
4.4. Schule muss der Ort sein, an dem alle Kinder aber besonders jene, die aus totalitären Staaten geflohen sind, demokratische Grundregeln erleben; wo Respekt, Beteiligung, Partnerschaft, Verantwortungsübernahme und Anerkennung als Grundwerte vermittelt werden.
4.5. Besonders wichtig ist es in allen Berufsgruppen, die mit dem Thema befasst sind, an der Kinder-/ Menschenrechtsbildung und an der respektvoll-wertschätzenden Haltung gegenüber dem „Fremden“ zu arbeiten.
In der Diskussion erwähnte Publikationen, Initiativen, Projekte, Programme:
„Willkommen bei Freunden“ des BMFSFJ und der DKJS; KINDERrechte für KINDERflüchtlinge von Save the Children, Buch „No border“ http://www.no-border.info/buch; Film: „Neuland“ http://neuland-film.ch; Film Auf der Flucht. https://www.youtube.com/watch?v=m0bvlYfKUI4; Buch und Film: „Halbmondwahrheiten“ http://www.kino-zeit.de/filme/trailer/halbmondwahrheiten#.VUdZI6RQjAA.email
Oggi Enderlein, Mai 2015