Handlungsanforderungen und Kompetenzen pädagogischer Bezugspersonen mit Blick auf die entwicklungsrelevanten Bedürfnisse der Großen Kinder

Präambel

Ziel von Aus-und Fortbildungen sollte sein, dass Erwachsene, die mit Großen Kindern leben und arbeiten, für deren Belange und alterstypische Lebensthemen sensibilisiert werden.

 

Zu selten wird thematisiert, welche individualspezifischen und entwicklungsrelevanten Lebensbedürfnisse die Kinder im Alter zwischen 6 und 12/13 Jahren haben und welche damit verbundenen Lebensbedingungen sie tatsächlich brauchen, um sich körperlich, seelisch und sozial gesund zu entwickeln.

Die von einer Experten-Gruppe der Initiative für Große Kinder erarbeiteten Punkte sollen Anregungen geben und den Blick schärfen für einen entwicklungsfördernden Umgang mit „Großen Kindern“, der über „Bilden-Betreuen-Erziehen“ hinausgeht. Wer sie liest, wird sicher darüber hinaus eigene weiterführende Ideen haben, Defizite erkennen und Möglichkeiten für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit mit den Jungen und Mädchen finden.

 

Zum Basiswissen gehören Kennnisse über die Rolle von Bedürfnissen in der Entwicklung des Menschen und über den psychischen Zustand der Frustration im Allgemeinen sowie dessen Bedeutung für das Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung.

Erwachsene, die mit Kindern leben und arbeiten, sollten über die Folgen andauernder Frustration von alterstypischen Bedürfnissen im Alter der Großen Kinder informiert sein, die sich in Aggressivität, sozial abweichendem Verhalten, Depressionen, psychosomatischen Störungen, Lernproblemen, Hyperaktivität etc. äußern können. Aber auch die Bedeutung von Selbstkontrolle, (Affektregulation) und Frustrationstoleranz, die in diesem Alter ein wichtiges Thema sind, muss beachtet werden.

Die Kenntnis der UN-Konvention für die Rechte des Kindes ist auch in Deutschland eine wichtige Grundlage für das Leben und die Arbeit mit und für Kinder aller Altersstufen. Mit Blick auf die Belange der „Großen Kinder“ findet man in der Konvention Hinweise darauf, was zu vielen Kindern im so genannten Schulalter in unserem Land wahrscheinlich für ihre gute und gesunde Entwicklung fehlt. Das betrifft vor allem die Rechte auf Beteiligung, auf Spiel, Freizeit, Rückzug, auf Wahrung der Privatsphäre und auf Chancengleichheit.

Dieser Text ist das Ergebnis eines intensiven Diskussionsprozesses von Mitgliedern der „Initiative für Große Kinder“. Beteiligt waren neben den federführenden Bärbel Kirsch, Oggi Enderlein und Lothar Krappmann: Anne Bittmann, Jürgen Bosenius, Karen Dohle, Prof. Dr. Wolfgang Edelstein, Dr. Sabine Knauer, Prof. Dr. Sylvia Kroll, Prof. Dr. Jörg Maywald, Valeska Pannier, Prof. Ludger Pesch, Marita Salewski, Barbara Tennstedt und Anne Schnier.

 

Wissen, das in Aus- und Weiterbildung aller Berufsgruppen, die mit „Großen Kinder“ zu tun haben, vermittelt bzw. erworben werden sollte.

  1. 1.Kenntnisse über die Entwicklungsphase zwischen 6 und 12/13 Jahren
    1. Theorien und Befunde zur emotionalen, sozialen, kognitiven und somatischen (körperlichen, hormonellen, neurologischen) Entwicklung im Alter zwischen etwa 6 und 12/13 Jahren.
    2. Verhaltensweisen, Perspektiven, Bedürfnisse und Anliegen von Kindern dieser Altersgruppe. Besonders die Bedeutung des Spiels, der Peergroup, des selbstbestimmten Tuns, der Beteiligung, von Selbstwirksamkeitserfahrungen.
    3. Aktuelle Studien zur Lebenswirklichkeit von Großen Kindern
    4. Kulturell bedingte Unterschiede bei den Erwartungen an das Verhalten von Großen Kindern (wichtig beim Umgang mit Einwanderern aus nicht-europäischen Kulturen)
    5. Geschlechtsspezifische Unterschiede und Parallelen in der psychosozialen Entwicklung
    6. Psychosexuelle Entwicklung ab dem siebten Lebensjahr
    7. Ursachen und Auswirkungen von besonderen psychischen und körperlichen Behinderungen des Kindes sowie den angemessenen Umgang damit
    8. Psychologische und pädagogische Diagnostik und entsprechende Interventionen zwischen Vorschul- und Jugendalter
    9. Unterschiedliche pädagogische Konzepte
    10. Unterschiedliche psychotherapeutische Konzepte
  1. 2.Große Kinder in der Gesellschaft
    1. Kinderrechte und ihre Bedeutung für die Großen Kinder in Deutschland
    2. Erleben, Erfahren, Umsetzen von demokratischen Umgangsformen in Schule und Kommune als Basis einer demokratischen Zivilgesellschaft
    3. Die Bedeutung des Wohnumfeldes (u.a. altersgerechte Aktionsräume) als prägende Lebenswelterfahrung
    4. Die Bedeutung von Familienkultur und Familienkonstellation für die Entwicklung der Großen Kinder
    5. Die Bedeutung von ethnisch-kulturellen Wurzeln und Traditionen für Entwicklungs-chancen und -hemmnisse
    6. Einfluss von Medien auf die kognitive, soziale, emotionale körperliche Entwicklung.
  1. 3.Wohlbefinden

Bedeutung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens für gelingendes Aufwachsen und als Voraussetzung für erfolgreiches Lernen. Kenntnis über förderliche und hemmende Faktoren in unterschiedlichen Lebensbereichen

  1. Generell: Bedeutung von sozialer Eingebundenheit, Zuwendung, Anerkennung, Schutz und Sicherheit für das psychische und physische Wohlbefinden
  2. Bedeutung von vertrauensvollen Beziehungen
  3. Bedeutung von wertschätzender Kommunikation
  4. Bedeutung von angemessenen Anforderungen
  5. Bedeutung von Selbstwirksamkeitserfahrungen und von Nützlich-Sein
  6. Bedeutung von der Freude am Tun, von angemessenen Herausforderungen für die Motivation, Selbstwirksamkeitserleben und allgemeines Wohlbefinden
  7. Bedeutung von Verantwortungsübernahme
  8. Bedeutung von Zukunftsperspektive und Zuversicht
  9. Bedeutung von Beteiligung
  10. Bedeutung von Freunden und Peergruppe
  11. Bedeutung des Schul- und Klassenklimas
  12. Bedeutung von Bewegung; von Spiel, Freizeit und Erholung
  13. Kenntnisse über Vulnerabilität und Resilienz im Alter zwischen 6-13 Jahren
  14. Kenntnisse über verhaltens- und somatische Signale die auf psychische oder körperliche Verletzungen bzw. Schädigungen hinweisen
  1. 4.Soziales Umfeld Erwachsene
    1. Bedeutung einer vertrauensvollen Beziehung, von Zuwendung, Wärme, Wertschätzung, Anerkennung, für Lernerfolg und Persönlichkeitsentwicklung
    2. Bedeutung von Respekt, von Nähe und Distanz
    3. Bedeutung klarer verlässlicher Strukturen und definierter altersgerechter Freiräume für die Entwicklung von psychischer Stabilität, Autonomie und Verantwortungsübernahme
    4. Bedeutung von Beteiligung, „gefragt“ und ernst-genommen-werden für die Entwicklung von Selbstsicherheit, Autonomie, Verantwortungsübernahme und sozialer Kompetenz
    5. Bindungstheoretische Kenntnisse in Bezug zu 6- bis 12-Jährigen
    6. Wissen über die Bedeutung des sozialen Status des Elternhauses auf Bildungschancen, psychische Gesundheit, soziale Kompetenz, Zugehörigkeit, kulturelle Beteiligungsmöglichkeiten der Großen Kinder
    7. Kenntnisse über Strategien um Benachteiligungen entgegen zu wirken (Beteiligung, Selbstwirksamkeitserfahrungen, Verantwortungsübernahme)
    8. Erkennen und Fördern von besonderen Talenten
    9. Bedeutung der Schule als wichtiger Lebensmittelpunkt und ihr Einfluss auf das Wohlbefinden und die allgemeine Persönlichkeitsentwicklung
    10. Bedeutung der Lehrkraft für den Schul- und Lernerfolg
    11. Kenntnis über die Auswirkung des Umgangstons der Lehrkraft/pädagogischen Kraft auf die Umgangsformen der Kinder untereinander
    12. Kenntnisse über motivierende und demotivierende Handlungsweisen, Umgangsformen, Rückmeldungen
    13. Wissen über die Bedeutung unterschiedlicher Umgangsformen, Vorbilder und Erziehungsstile in verschiedenen Familien
    14. Bedeutung von außerfamiliären und außerschulischen Bezugs- und Betreuungspersonen für die Persönlichkeitsentwicklung
    15. Wissen über Konflikte, die sich aus unterschiedlichen Umgangsformen und Erziehungsstilen zwischen Familie/Schule/außerschulischen Bildungs- und Freizeit angeboten ergeben können
    16. Wissen über die Bedeutung von außerschulischen und nicht-institutionellen Welterfahrungen und von Autonomie für die Entwicklung im Alter der Großen Kinder
  1. 5.Soziales Umfeld Kinder
    1. Bedeutung von Freunden für das emotionale und allgemeine Wohlbefinden (Bindung unter Freunden)
    2. Bedeutung der Kindergemeinschaft für das Gefühl sozialer Eingebundenheit, für die Entwicklung von Autonomie und Verantwortungsübernahme
    3. Bedeutung der Abgrenzung und Auseinandersetzung von Mädchen und Jungen für die psychosexuelle Entwicklung und die Identitätsentwicklung
    4. Bedeutung der Beziehung zu Klassenkameraden für den Schul- und Lernerfolg
    5. Bedeutung der sozialen Position in der Kinder- und Klassengemeinschaft für die emotionale Stabilität und soziale Kompetenz
    6. Wissen über die Bedeutung von Gruppen und Cliquen für die Erfahrung von Rollen, Hierarchien, Gruppendynamik und für Kommunikationsformen wie Unterdrückung-Unterwerfung vs. partnerschaftlich-demokratischen Aushandlungsprozessen (z.B. von Absprachen, Regeln, Streitschlichtung)
  1. 6.Bewegung/Körperlichkeit
    1. Bedeutung von Bewegung für die körperliche Gesundheit und Entwicklung von Kindern dieser Altersgruppe (Muskelaufbau, Unfall- und Krankheitsprävention)
    2. Bedeutung von Bewegung (und Entspannung) für das emotionale Wohlbefinden und die Emotionsregulation (Stress-, Aggressionsabbau, Depressionsprävention)
    3. Bedeutung von Bewegung (und Entspannung) für die Konzentrationsfähigkeit und den Lernerfolg.
    4. Bedeutung selbstbestimmter Bewegung für die Entwicklung des Selbstkonzeptes
    5. Bedeutung von Bewegungsspiel der Kinder miteinander für die Entwicklung sozialer Kompetenz.
    6. Bedeutung von Körpererfahrungen wie Kitzeln, Schmerzgrenzen bei sich und anderen für die Entwicklung von Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen
    7. Bedeutung von lautem Spiel, Schreien, Krach-Machen für die emotionale Ausgeglichenheit, die Entwicklung von Autonomie und für die Entwicklung von Respekt gegenüber anderen
      1. Bedeutung von eigenverantwortlichen Bewegungsaktivitäten für den Umgang mit Risiken
  1. 7.Selbstwirksamkeit/Autonomie
    1. Recht des Kindes auf Wahrung der Privatsphäre sowie auf Spiel, Freizeit, Rückzug kennen
    2. Bedeutung von selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Aktivitäten für die Entwicklung von Selbstwirksamkeit, Selbstwert, Selbstvertrauen, Verantwortlichkeit, Autonomie.
    3. Bedeutung definierter altersgerechter Freiräume für die Entwicklung von Autonomie und Verantwortungsübernahme
    4. Bedeutung informellen Lernens, von (eigenständigem) Forschen, Entdecken, Experimentieren, Konstruieren, Gestalten, Organisieren für die kognitive und soziale Entwicklung
    5. Bedeutung für die Entfaltung von besonderen Talenten und Interessen
    6. Kenntnis über die Bedeutung von selbst gestellten bzw. passenden Herausforderungen für die Leistungsmotivation und das Wohlbefinden
  1. 8.Wissen und Können

Hier beschränken wir uns auf wenige Hinweise, die in pädagogischen Ausbildungen stärker berücksichtigt werden müssten.

  1. Die Vielfalt der altersspezifischen Interessen und die Lebenswelten der Kinder kennen und berücksichtigen
  2. Bedeutung von informellem Lernen kennen und schätzen, wissen, wie entsprechende altersgerechte Gelegenheiten zur Verfügung gestellt werden können
  3. Nicht-kognitive Begabungen und Interessen erkennen, wertschätzen und fördern
  4. Bedeutung von passenden Herausforderungen (Vermeidung von Über- oder Unterforderung, Fehlerfreundlichkeit) für die Lernmotivation und den Lernerfolg kennen
  5. Bedeutung von Spaß und Freude am Lernen und Tun für das Wohlbefinden kennen
  6. Methoden individueller Förderung kennen
  7. Kompetenz, altersgemäße, dem einzelnen Kind gerecht werdende geistige Anregungen zu schaffen
  8. Kenntnisse über verschiedene Lerntypen und Lernzugänge
  9. Wissen über unterschiedliche Begabungstypen und – niveaus
  10. Die Bedeutung und Inhalte der „Lebenswelt“ Medien für diese Altersstufe kennen, Chancen aufgreifen, Kompetenzen im Umgang mit Medien fördern, Gefahren mit den Kindern bearbeiten

 

September 2016

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